Kaum fiel die obligatorische, abgeschottete Touristenführung, reiste ich nach Burma.
Endlich, nach Jahrzehnten, öffnete sich das Land langsam, und man konnte fast überall frei herumreisen.
In Rangun, in einer Seitenstrasse, fiel mir ein Laden auf, in dessen Schaufenster waren Bücher mit mir unbekannten, mystischen Symbolen ausgestellt. Der Ladenbesitzer war ein alter, kleiner Mann. Er hatte eine Glatze, abstehenden Ohren, einen langen grauen Spitzbart und riesigen Kulleraugen, die eine starke Persönlichkeit vermuten liessen. Da er nur seine Landessprache beherrschte, konnten wir uns nicht verständigen. Ich wollte deshalb wieder hinausgehen, da trat ein circa 25-jähriger Burmese ein. Überaus freundlich, in einem gepflegten Englisch, fragte er mich, ob er für mich übersetzen solle. „Ja sehr gerne, ich möchte den Sinn dieser ausgestellten Symbole erklärt haben.“
„Das sind burmesische astrologische Symbole. Du stehst vor dem ehrenwerten Meister Mai Mai, er ist der angesehensten Astrologe im ganzen Land. Sogar von unseren Landesführern wird er sehr oft konsultiert.
Mein Name ist Chau Chau Wei, und es ist mir eine Ehre, Dir die Deutung des Meisters verständlich zu übermitteln.“
„Wenn er wirklich so gut ist, dann soll er mir nicht die Zukunft, sondern meine Vergangenheit erklären, denn die kenne ich ja und so kann ich seine Fähigkeiten beurteilen.“
Meister Mai Mai war damit einverstanden und nickte. Er verlangte lediglich mein Geburtsdatum. Er schrieb die Daten sorgfältig auf und nahm drei verschiedene Bücher zur Hand. Das erste Buch gefüllt mit mathematischen Formeln, das zweite gespickt mit astronomischem Wissen. Das dritte jedoch mit unzähligen Drucken von Handzeichnungen und feinen Linien.
Er verlangte meine linke Hand und nahm eine Lupe. Er betrachtete damit lediglich die Falte oberhalb des kleinen Fingers. Sogleich machte er sich Notizen. Blätterte in den drei verschiedenen Büchern hin und her. Weitere Zeichen, Symbole und Zahlen folgten. Eine komplizierte, für mich unverständliche Formel entstand. „Er möchte dir noch in das linke Auge schauen. Das Herzauge.“ übersetzte Chau Chau Wei. Ich nickte. Mai Mai nahm eine Lupe und setzte sie mir vor meine Iris. Er beugte sich so nah, dass sich unsere Nasenspitzen berührten. Zwei Riesenaugen schauten sich nun gegenseitig an. In diesem Moment hatte ich ein Gefühl, als würde ich durchleuchtet. Nach etwa einer Minute setzte er sich hin. Er nahm ein Instrument, das einem Rechenschieber glich. Es folgte am unteren Blattende ein Summa Summarum Strich. Das Resultat waren zehn astrologische und mathematische Zeichen.
Ich war gespannt. „Ehrenwerter Fremder, was ich sehe ist – Nie warst du alleine im Leben, du hast eine siebenjährige Tochter. Dein Beruf ist der Handel, mit dem das Reisen in Verbindung steht. Auch sonst hast du viel gesehen und erlebt, wie die meisten in mehreren Leben nie sehen werden. Du verlässt dich auf deinen Instinkt, und versuchst jeder Art von Gewalt aus dem Wege zu gehen. Vor drei Jahren beanspruchtest du deinen Körper so arg, dass er auf Messers Schneide zum Jenseits stand… etc. …etc!
Starr, und mit offenem Mund stand ich vor ihm. Mir schossen Schweissperlen aus allen Gesichtsporen. Alles, alles stimmte. Die Daten, die Schlüssel-Ereignisse, die Charakterzüge. Einfach alles! Ich brauchte Zeit, um mich zu erholen und atmete tief durch. „Ich danke Meister, grosser Meister! Verzeihe mir meine Zweifel. Doch verstehe bitte, meine Zukunft will ich nicht wissen. Es würde mich nur belasten. In aller Ehre, verstehe das. Chau Chau Wei übersetze, während Mai Mai mit seinem leuchtenden Kulleraugen lächelte. Wir verbeugten uns gegenseitig. Als ich aus dem Laden trat, hatte ich immer noch Herzflattern. Neben mir stand Chau Chau Wei, schmunzelte und meinte geheimnisvoll „Mai Mai kennt deine Zukunft.“
Reise durch das Goldene Land
Rangun gefiel mir. Grosszügig angelegt mit breiten Strassen, kaum Autos, saubere Luft und mystisch. Ich besuchte den Shwegagon Tempel – eine architektonische Meisterleistung. Im inneren der Pagode wurden die Leitsätze Buddhas zelebriert. Die Leute meditierten und beteten und die süssesten Düfte kreuzten sich. Um die Geschichte des Landes besser zu verstehen, besuchte ich Museen und verweilte in der Frische spendenden Pärken, begleitet von Chau Chau Wei, der nun mein ständiger Begleiter war. Er verfügte über jegliche Informationen und diente mir weiterhin als Traductor. Spät Abends begleitete er mich in meine Herberge, um mich am nächsten Morgen wieder abzuholen, ohne das wir dies vereinbarten.
Als ich ihm mein Ziel erläuterte, den Goldenen Felsen, einer der heiligsten Pilgerstätte des Landes zu besuchen, meinte er kurzum, „ich werde dich begleiten, so kann ich meine Opfer darbringen!“
Die Reise begann in einem Zug. Danach setzten wir uns hinten auf einen offenen Laster, wo wir genügend Staub von anderen abbekamen. Das Anstrengendste jedoch war ein Marsch durch den feuchtheissen Dschungel. Er dauerte nicht weniger als sechs Stunden und immer steil bergauf. Es war Ende November. Die Pilgerreise war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Abends hatte wir endlich die Anhöhe erreicht – nun waren nur noch zwei Kilometer am Bergkamm zu bewältigen. Da es schon dunkel war, trug jeder Pilger eine brennende Fackel. Es war ein atemberaubender Anblick. Vor allem als fast wie aus dem Nichts, der Goldene Felsen auftauchte. Da war er, majestätisch, grandios, überwältigend. Der Sage nach verhindert ein Haar Buddhas, dass der riesige Felsen den steilen Abhang hinunterstürzt. Oohmm, Oohhmm, das Gemurmel der Gebete, und dann erklang der dumpfe, fast schon hypnotisierende Klang eines riesigen Gongs. Er drang durch Mark und Bein. Ich war der einzige Weisse, der unter Tausendenden diese magische Nacht miterleben durfte. Doch als eben dieser, war es mir verboten, mit ihnen zu Übernachten. Ich musste als Einziger abseits in einer Hütte die Nacht verbringen. „So sind nun mal die Gesetze hier. Das ist nur zu deiner eigenen Sicherheit. verstehst du?“ versuchte mir Chau Chau Wei weiszumachen. „Was, aus Sicherheitsgründen? So ein Quatsch. Deine Regierung hat ja einen Knall. Die Militärregierung will nur verhindern, dass Kontakte und Informationen ausgetauscht werden könnten.“ schrie ich entnervt. Mir war es sowieso ein Rätsel, warum dieses so friedliche Volk unterjocht wurde. Die einzige Antwort war wohl die Macht, eine ergötzende Macht. Nichts anderes. Chau Chau Wei missfielen meine Worte. Und zu meinem Erstaunen verteidigte er das Regime und hob vor, welche unzählige Vorteile es gäbe. Ich persönlich sah keinen einzigen. Ich ging schlafen.
Zwei Tage später, nach unserer Rückkehr, begleitete er mich wieder in meine Herberge. Diesmal verabredeten wir uns für den nächsten Morgen um 9 Uhr.
9 Uhr war längstens vorbei, jedoch keine Spur von ihm. Hatte ich ihn mit meinen Äusserungen letzthin gekränkt? Um halb Elf erkundigte ich mich nochmals an der Rezeption – vielleicht hatte er mir eine Nachricht hinterlassen. „No, sorry Mister“ schaute sich dann um und gab mir ein unauffälliges Zeichen. Es verriet, ich solle ihm in den Hinterraum folgen. Er überprüfte, dass uns niemand sah und sprach mit vorgehaltener Hand ganz leise, „Pst Mister, ahnen sie denn nichts Mister?“ „Nein, Was denn? Ich weiss nicht, was sie meinen.“ und schüttelte den Kopf.
„Wirklich nicht Mister, erzählen sie aber niemandem, was ich ihnen jetzt sagen werde.“
„Nein, ganz sicher nicht.“ gleichzeitig hob ich meine Hand an mein Herz.
„Wissen sie, der Mann, der sie immer begleitet hat, ist kein guter Mann. Nein, er ist ein sehr, sehr schlechter Mann. Er bespitzelt Leute, vor allem Ausländer, alleinreisende Amerikaner und Europäer. Er will in Erfahrung bringen, ob sie mit Aung San Suu Kyi oder der Freiheitsbewegung Kontakt aufnehmen wollen. Ob sie diese in irgendeiner Form unterstützen oder Informationen übergeben. Hüten sie sich vor diesem Mann. Falls er jedoch nicht wieder auftaucht, so glaube ich, sind sie ihm nicht verdächtig. Passen sie aber immer auf, was sie sagen. Hier in Burma verschwinden Leute einfach so, und man hört nie mehr etwas von ihnen. Versprechen sie mir, dieses Gespräch hat niemals statt gefunden. Ehh, falls sie aber trotzdem die Bewegung unterstützen wollen – hier eine Telefonnummer. Aber niemandem geben, versprochen?“ Ich versprach abermals. Vorsichtig späte er aus dem Hinterraum und platzierte sich, als wär nichts gewesen, wieder hinter der Rezeption.
Ich hätte mich Ohrfeigen können. Welche Naivität von mir. Jetzt fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Nun sah ich all diese Zusammenhänge der neugierigen Fragen, die unwillkürliche Bereitschaft von Chau Chau Wei. Er bespitzelte mich die ganze Zeit, ohne dass ich den geringsten Verdacht hegte. Und dies während zehn Tagen. Zehn ganze Tage begleitete mich also ein Spion.
Ich sah Chau Chau Wei nie mehr.
Nur noch 50 Kilometer bis Rangun. Seit der Geschichte mit Chau Chau Wei hatte ich viel erlebt. Ich besuchte die sagenumwobene Stadt Bagan, in welcher sich, vor tausend Jahren mit seinen unzähligen Pagoden, eine Hochkultur entstand. Ich watete auf den schwimmenden Gärten mit ihren Dörfern im Lake Inle. Übernachtete in buddhistischen Klöstern, wo ich meinen Kopf von den Mönchen kahl scheren liess. Wanderte im golden Dreieck an der Grenze zu China. Wobei ich mich tagelang nur mit Handzeichen verständigen konnte. Bis ich dann auf einen Schweizer traf, dem es gleich erging wie mir. Und wir uns dann gegenseitig voll quatschten, ohne dass der eine dem anderen zuhörte, als wir das darauffolgende Nachtessen teilten. Um mich dann von den Strapazen zu erholen, genoss ich noch einen Aufenthalt am Bengalischen Meer. Wobei mir von da immer in Erinnerung bleiben wird, wie ich 48 Stunden alleine, ohne jeglichen Kontakt zu irgendeiner Form von Zivilisation, verbrachte. Ich werde diese Nächte nie mehr vergessen, da ich dachte, ohne jegliche künstliche Lichtquellen könne ich mit meinen Fingern die leuchtenden Sterne berühren. Die riesigen Wellen des Meeres, die donnernd im Rhythmus aufschlugen und rauschend strandeten. Hinter mir der Dschungel mit seinen Tierlauten, obwohl ich wusste, das es keine gefährlichen gab, bekam ich Angst. Nicht jene, die mir die Tiere hätten einflössen können. Nein, eine mir ganz fremde. Lange versuchte ich sie zu ergründen. Erst nach langen Stunden enträtselte ich sie. Durch die Stille der Einsamkeit, der stark präsenten Natur, den Elementen, die mich umgaben – es war die Angst vor mir selbst. Ich begriff, das jedes Individuum aus seiner Einzigartigkeit besteht. Und das jedes dazu bestimmt ist, die Erkenntnis seiner Selbst zu erforschen und zu finden. Die Zeit die ihm zur Verfügung steht, ist jene bis zu seinem letzen Atemzug. Nicht mehr. Die Zeit, so, wie wir sie täglich verstehen, existiert gar nicht. So kam es mir vor, ich verbrächte eine Ewigkeit alleine an diesem Strand. Ja, dies war ein einzigartiger Moment in meinem Leben.
Jetzt sind es nur noch fünf Kilometer bis Rangun. Ich sass im Rücksitz eines VW-Busses, gesteuert von einem Inder und vorne neben ihm sass ein Chinese. Zurück, wo meine Burma Reise begann. Plötzlich, wie von einer Wespe gestochen, erhöhte der Inder die Lautstärke des Radios. Beide brachen in heftigen Diskussionen aus und schüttelten gleichzeitig ihre Köpfe. „Hei, um Gottes Willen, was ist los?“ fragte ich lautstark.
„Problem, problem Mister, very big problem.“ gaben sie mir in stereo zu verstehen. Nachfragen brauchte ich nicht mehr. Schwer bewaffnete Soldaten hielten uns in einem eilig errichteten Check-Point an. Wir wussten, die Lage war sehr ernst.
„Aussteigen. Aussteigen. Hände über den Kopf.“ befahlen sie.
Der Chinese und der Inder begannen sogleich zu schwitzen. Ich wohl dreimal mehr.
„Ausgangsperre, es ist Ausgangssperre. Was macht ihr hier? Wer seit Ihr? Wo wollt ihr hin?“
Jetzt hörte ich unweit entfernt Maschinengewehrfeuer.
Der Inder sagte etwas, dass ich nicht verstehen konnte, bekam aber sogleich den Kolben des Gewehrs zu spüren. Der Kommandant stand nun vor mir. Ich spürte seine Nervosität. Mir rann der Schweiss in die Augen. Einer der Soldaten stiess mir sein Gewehr leicht in den Rücken.
„Passport. Passport, Quick.“ Ich zog ihn zitternd hervor. „Wir kommen von einer Reise aus dem Norden. Wir wussten nichts von der Ausgangssperre. „Der Inder hielt sich immer noch seinen Bauch. Zwei Soldaten durchwühlten den VW und unser Gepäck flog durch den Bus. Einer der Soldaten gab Entwarnung.
„OK, Ins Rangoon Hotel, direkt. Nur dahin, verstanden. Sonst werdet ihr verhaftet. Das ist ein Befehl. Der Jeep begleitet euch. Go Go Go.“
Er wiederholte dasselbe auf Burmesisch. Als wäre ein Hydrant explodiert, antworten wir synchron jeder mit dreimal YES YES YES.
Im Bus wischten wir zuerst alle gleichzeitig unseren Schweiss ab. Wir fuhren, ein Jeep vor uns, ein anderer hinter uns, direkt ins Hotel. Die Fahrt dauerte nur drei Minuten – sie dauerte jedoch eine Ewigkeit. Obwohl ein Luxushotel par Excellence, blieb uns ja keine andere Wahl, als hier zu übernachten. Meine Begleiter verloren keine Zeit und zogen sich gleich in ihr Zimmer zurück. Ich ging an die Bar und bestellte mir einen doppelten Whiskey ohne Eis. Ich trank ihn auf ex und bestellte mir noch einen – wieder doppelt. Dann setze ich mich in die Lounge. Man spürte bei den wenigen Gästen, wie auch beim Personal die angespannte Stimmung. Im Fernsehen quasselte ein General der Armee alle drei Minuten, dass Ausgangssperre herrsche und er alles im Griff habe. Zwei Personen traten durch den Hintereingang und setzten sich an den Tisch neben mir. Es waren keine Burmesen, das konnte ich erkennen. Sie redeten ganz leise miteinander, aber ich spürte, wie sie sich über mich unterhielten. Inzwischen konnte ich ihre Sprache entziffern – es war Thai. Ich stand auf, und wollte mich auf der Toilette ein bisschen erfrischen. Als ich wieder austrat, stand der eine vor mir, und hielt sich den Zeigefinger vor seinen Lippen. „Hello, sorry, wir haben dich beobachtet, bist du Europäer?“
„Ja ich bin Schweizer, warum?“ antwortete ich.
„Sehr gut, du weisst, was heute bei der Universität geschah?“
„Nicht genau, keine Einzelheiten, aber soweit ich verstehe, ist eine Revolte im Gange.“
„Ja genau. Es gab eine friedliche Demonstration von Studenten und Mönchen. Plötzlich, ohne Warnung schoss das Militär in die Menge. Es gab Tote und viele Verletzte. Mein Kollege und ich waren anwesend und haben alles gefilmt. Wir sind Journalisten und arbeiten für die Bangkok News. Wir zahlen dir 5000 Dollar, wenn du dass Filmmaterial nach Thailand bringst. Nochmals 10’000 wenn du es in der Redaktion ablieferst. Dich werden sie kaum durchsuchen, uns jedoch mit Sicherheit. Die Welt muss wissen, welche barbarische Regierung hier an der Macht ist. Okay?“ flüsterte er.
„Du hast es selbst erwähnt. Das KAUM. Dieses KAUM ist mir zu riskant. Jeder weiss, die Gefängnisse hier sind die Hölle.“
Er versuchte mich weiter zu überzeugen, doch roch ich immer noch meinen Angstschweiss.
Zehn Tage später bei mir zu Hause, zappte ich mit meiner Fernbedienung. BBC News – Schlagzeile Burma – Diese Doku zeigt, wie das Militär auf friedliche Demonstranten schiesst. Man geht von einem Dutzend Toten, und doppelt so vielen Verletzen aus… Es ist ein exklusives Dokument, aufgenommen von zwei thailändischen Journalisten. Von Ihnen fehlt seit Tagen jede Spur. Die Welt ist empört.“
Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück. Irgendwie schämte ich mich.