Ich wurde fast erdrückt, bekam kaum noch Luft. Es war Oskar, der mich beinahe erdrückte. Neben ihm stand Marcelo. Ich betrat argentinischen Boden. Es sollte meine dritte Heimat werden. Weswegen? Der Grund war und ist es immer noch, Freunde zu besitzen, die diesen Namen auch verdienen. Freunde zu haben, die man sich eigentlich sonst nur so wünschen würde. Ich habe solche.
Es begann vor einem Jahr in Venezuela. Als ich dieses Land besuchte, kreuzten sich unsere Wege. Doch nichts, gar nichts liess erahnen, dass wir noch unzählige Abendteuer vor uns haben würden.
Oscar, ein feinfühliger Poet wie er im Buche steht. Verheiratet ist er mit seiner Gitarre. Er berührt und behandelt sie auch so, als wäre es sein Geliebte. Seine Lieder lassen jedem, ja wirklich jedem das Herz erweichen. Des öfteren wurde ich Zeuge, wie auch bei den härtesten Machos die Tränen flossen. Seine Texte können so tief in die Seele eindringen, dass es dem Zuhörer passieren kann, dass seine Gefühle explodieren, wie ein entkorkter Champagner. In Freude, wie auch in seinen Sehnsüchten.
Marcelo hingegen ist ein liebenswerter Träumer. Aber einer, der alles ergründen will. Genau so tiefsinnig vom Charakter her, aber eher scheu.
Beide wohnen in La Plata, der Provinzhauptstadt von Buenos Aires und etwa 60 km südlich von dieser. Marcelo hat inzwischen eine feste Lebenspartnerin, Alicia, die auch einen fixen Logenplatz in meinem Herzen besitzt.
Oscar sang Solo, im Duo, oder in kleinen Gruppen. Besonders gefiel mir, als er mit Edmee sang, eine Frau, die mit einem Universitäts-Professor verheiratet ist und mit ihm sechs Kinder hat. Sie sind überzeugte Peronisten und deswegen setzen sie sich aus Überzeugung für soziale Projekte ein. So auch für ein selbst finanziertes Projekt, das sozial armen Kinder ermöglicht, viermal in der Woche, eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen. Vis-a-vis ihres Hauses mieteten sie dafür ein kleines Häuschen.
Selten lernte ich eine so vielseitig engagierte Frau kennen. Schon nahe an die 50, jedoch immer noch sehr hübsch trotz den vielen Kindern. Das Häuschen war in einem sehr traurigen Zustand. Alles war grau und der Putz bröckelte von den Wänden. Ich bot ihr an, es aufzubessern, neu zu streichen und Figuren zu malen, so, dass die Kinder diese dann frei nach ihrer Phantasie ausfüllen oder ergänzen könnten. Das ganze würde ich natürlich auch finanzieren. Überrascht und hoch erfreut über mein Angebot, willigte sie ein. Es folgte eine Woche in meinem Leben, die ich nie mehr vergessen werde. Die ersten zwei Tage verliefen ganz entspannt, da ich mit einem Sozialarbeiter zuerst den Putz ausbesserte und dann das ganze Weiss anstrichen. Danach war meine Kreativität gefragt. Ich versuchte mit originellen Skizzen dem ganzen einen Aspekt der Fröhlichkeit zu geben. Frühmorgens des dritten Tages bereitete ich also die Farbtöpfe, Pinsel und Lacke für die Kinder vor. Die Mädchen sollten drinnen, die Buben draussen, frei nach ihrer Inspirationen handeln. Was mich aber dann erwartete, war einem Tsunami gleich. 40 Kinder gleichzeitig strömten vollgeladen mit Energie über mich und die Farbtöpfe her. Hunderte Fragen prasselten auf mich ein. „Gibt es einen kleinen Pinsel? Wo ist die blaue Farbe? Darf man auch dies? Gibt Gelb vermischt mit Blau, Grün? usw., usw…“ Während ich im Innenraum mit den Mädchen das ganze noch relativ in den Griff bekam, brach draussen bei den Jungs das totale Chaos aus. Querelen untereinander gab es zwar kaum, jedoch kippten Töpfe um, Füsse verirrten sich in Farbeimern, statt Pinseln wurden Besen benutzt, und man bemalte sich gegenseitig. Alleine musste ich diesen Überschäumenden Kräften standhalten. Beim Nachbar leihte man eine Leiter aus, stieg aufs Dach und bemalte dies kurzum auch noch Kunterbunt. Im Garten wurden auch die Bäume und Hecken bepinselt und der Hund, den ich gestern noch in Schwarz sah, kam jetzt in Violett daher. Das es zu keinem grösserem Unfall kam, grenzt schon an ein Wunder.
Abends war ich jeweils so erschöpft, dass ich gerade noch verhindern konnte, den Teller nicht mit dem Kopfkissen zu verwechseln. Meistens schlief ich mit den verschmutzen Kleidern ein. Das Resultat am Ende war jedoch Überwältigend. Ein farbenreiches Gesamtwerk voll von sprühender Energie. Meine Batterie jedoch blinkte „Empty, Empty, Empty“.
Eine andere, mir unvergesslich Szene, spielte sich auch in La Plata ab. Oscar und ich bestellten auf einer Terrasse einen Kaffee. Da hielt in einem Parkverbot vor uns eine Polizeistreife. Eine sehr hübsche Polizistin stieg aus und setzte sich an den Nebentisch. Sie habe jetzt endlich Feierabend, gab sie per Funk zu versehen. Es war zehn Uhr morgens. Sie sah erschöpft und übermüdet aus. Spontan stand ich auf, ging zu ihr und fragte sie höflich, „Entschuldigung Senora, Ich bin Schweizer und arbeite als freier Journalist für eine Wochenzeitung. Würden sie mir erlauben, mit ihnen ein Interview zu führen? Ich würde gerne einen Artikel über die Polizeiarbeit hier in Argentinien schreiben. Darf ich sie gleichzeitig zum Kaffee einladen?“.
„Setzen sie sich doch. Ich antworte ihnen gerne. Schiessen sie los.“ erwiderte sie mir sichtlich geehrt.
„Danke Senora, sehr freundlich von ihnen.“ Ich setze mich hin, und begann sogleich mit den ersten Fragen: “Wie verläuft ihr normaler Arbeitstag und wie gehen sie damit um, und vor allem, wer und wie ist die Polizei?“
„Wer und wie ist die Polizei? „wiederholte sie meine Frage und fuhr fort „Wir sind alle korrupt.“ Ich dachte ich hätte eine Ohrfeige eingefangen. So direkt war ihre Antwort. „Sie sehen überrascht aus Senor“ Ich war es auch, nicht wegen des Inhalts, sondern deren Ehrlichkeit.
„Stellen sie sich vor, sie riskieren tagtäglich ihr Leben für lächerliche 500 Dollar im Monat. Dazu jede Menge an Überstunden. Ich habe zwei Kinder. Mit diesem lächerlichen Lohn kann ich sie unmöglich ernähren. Deswegen, Senor, deswegen.“ Ich kritzelte auf meinen Notizblock. „Und wann begeben sie sich in Lebensbedrohliche Situationen?“
„Meisten bei zwischenmenschlichen Konflikten. Wenn wir da einschreiten müssen, oh-la-la. Die Argentinier haben Temperament, die sind oft schwer zu kontrollieren. Dann bei Einbrechern, die meisten sind arm, und haben aus ihrer Sicht nichts zu verlieren. Sie schiessen einfach drauf los.“ Sie überlegt und fügt noch hinzu, „Und natürlich bei Bandenkriegen, meistens geht es um Drogen.“
„Drogen? gibt es viele hier, ist dies ein grosses Problem?“ fragte ich naiv.
„Natürlich, wo Armut, auch Drogen. Legale und Illegale. Schauen sie, ich habe einen 15 stündigen Arbeitstag, sagen wir besser Nacht, hinter mir. Viele meiner Kollegen koksen sich die Nase voll, sie würden sonst das Arbeitspensum gar nicht durchhalten.“
Ich lehnte mich in meinen Stuhl zurück und schüttelte den Kopf.
„Schütteln sie nicht den Kopf, schreiben sie dies und veröffentlichen dies in ihrer Heimat. Es tut mir leid, ich muss mich jetzt um meine Kinder kümmern.“ Lächelnd stand sie auf, setzte sich ins Auto und fuhr mit Blaulicht davon.
Oskar schmunzelte. „Überrascht?“
„Nein, ich kenne ja Lateinamerika, aber so direkt.“
„Sie antwortete dir nur so ehrlich, weil du Ausländer bist.“
Monate später in Willys Hostel in San Rafael. Eine Atmosphäre für Globetrotter. Alle vier, Alicia, Marcelo, Oscar und ich fühlten sich sogleich zu Hause. Willy begrüsste uns. Mitte Fünfzig, rundes Gesicht, Glatze, riesiger Schnauz und ein Bäuchlein. Überall an den den Wänden hingen Fotos von Gästen aus der ganze Welt. Eingerahmt wohl bemerkt. Er zeigte uns die einfachen, aber sauberen Zimmer. Wir trafen uns wieder beim Nachtessen, das hervorragend schmeckte. Nach der Schlemmerei setze er sich zu uns. „Du kommst also aus der Schweiz. Was für eine Ehre für mich“ stand auf, und holte eine Flasche Wein aus seinem hervorwagenden Keller und entkorkte einen ausgezeichneten Wein. Aus den darauffolgenden Gesprächen entnahmen wir, dass auch er im „Espirito de la Pace“ seiner Zeit die Kontinente Amerikas bereiste. Sehr schnell kamen wir uns näher und begannen zu philosophieren. Am späteren Abend mussten wir noch das regionale Volksgetränk Fernet Branca mit Cola testen. Willy trank selbst am meisten und die Wirkung liess nicht lange auf sich warten. Die Augen wässrig und die rechte seines grossen Schnauzers blickte nun in die Höhe. Es gelang ihm kaum mehr seine Worte richtig zu artikulieren, so dass er sich von nun an mit Handzeichen verständigte. Er hatte sein Markenzeichen. Falls er mit Aussagen einverstanden war, zog er mit seiner rechten Hand von oben nach unten einen Strich, darunter ein Summa Summarum Querstrich, dem danach ein nach oben gezeigter Daumen folgte. Dies wiederholte er unzählige Male bis tief in die Nacht hinein.
Zu unserem Erstaunen war er es, der uns am nächsten Morgen begrüsste. Pudelwohl und voller Tatendrang. Zu dritt, Oscar duschte sich noch, begannen wir das Frühstück. Neben mir Oscars Gitarre. Als Willy uns die frischen Brötchen brachte, rückte er mit einer origineller Idee heraus. „Nach unserem Gespräch heute Nacht“, wir waren alle erstaunt, dass er sich noch zu erinnern vermochte, „trommle ich Gäste zusammen und Oscar soll seine Lieder spielen. Und du Mino hast ja erzählt, das du gut kochst.“ Inzwischen war auch Oskar anwesend. „Kommt, machen wir einen verrückten Abend.“
Also stand ich mit weisser Kochmütze und Schürze in der Küche und bereitete Spaghetti Carbonara zu und anschliessend flambierte ich riesige Rindsfilets. Alicia und Marcelo waren meine Gehilfen, ebenso mit Kochmütze. Die Küche war nur durch eine Glaswand getrennt. Willis Prinzip, die Gäste sollen sehen wie gekocht wird. Danach entführte Oscar, vor vollem Publikum, die Gäste mit seiner Geliebten in das Land der Poesie. Die Gäste verlangten mehrere Zugaben, sodass es ein sehr gelungener Abend wurde. Er endete wieder mit Fernet Branca mit Cola, wobei das Cola den kürzeren zog. Und Willys Markenzeichen wurde nur noch stumm aufgeführt, während es an diesem Abend, die linke Seite seines Schnauzers in die Höhe zog.
Mit geordnetem Schnauz und wiederum quicklebendig erwartete uns Willy schon am nächsten Morgen. Unser gemeinsames Foto vom Vorabend besass den schönsten Rahmen und war am besten Platz aufgehängt.
Unsere Weiterreise war angesagt. Willy konnte uns den Ort nur empfehlen, denn es wird behauptet, dass dieser Ort von positiver Energie genährt wird. Es gäbe auch schon wissenschaftliche Beweise von Geologen. Willy hatte beim Abschied wässrige Augen, doch diesmal nicht vom Fernet.
Nach zwei Stunden Fahrt erwartete uns ein Blockhaus an einem reissenden Fluss. Schon nach kurzer Zeit bemerkten wir alle vier, dass etwas unbeschreibliches in uns vorging. Alle spürten wir eine tiefe unerklärliche Zufriedenheit. Einen Einklang mit sich und der Natur. Der glasklare Fluss entführte uns durch sein Rauschen und seine reissende Kraft in eine Art Trance. Ich fühlte mich wie in einer Autohypnose. Den ganzen Tag sprachen wir kaum miteinander. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Ohne Fragen und ohne Antworten erledigte jeder Aufgaben, die am Ende sich miteinander einfügten. Abends am Lagerfeuer streichelte Oscar seine Geliebte und liess jeden seine eigenen Gedanken auswählen. Jeder zufrieden, mit sich und der Umwelt, träumte sich in denn Schlaf.
Plötzlich unterbrach ein Geklopfe und Gepolter diese Ruhe. Unsere Namen wurden laut gerufen. Aus unseren Träumen gerissen, öffneten wir die Tür. Es war Willy mit einem Gefährten, zwei Flaschen Fernet und Colas in seinen Armen. „Amigos, schaut, wen ich euch mitbringe. Hans, einen Schweizer. Schon wieder ein Schweizer. Da muss ich euch doch einander bekannt machen, ist doch klar Amigos. Zwei Schweizer in zwei Tagen, das muss doch gefeiert werden.“ Voller Enthusiasmus drückte er mich und Hans zusammen. Wiederum feierten wir, dieses Mal aber bis in die Morgendämmerung. Schon lange hörten wir die Kirchenglocken der umliegenden Dörfer läuten. Es war Fronleichnam und wohl acht Uhr. „Langsam muss ich zurück, ich muss am Mittag Gäste empfangen“, versuchten wir das Gesagte von Willy zu entziffern, was aber sehr schwierig war, bei dem Zustand in dem er sich befand. Sein Markenzeichen wiederholend, mit beiden Seiten seines Schnauzes in die Höhe ragend. Die unzähligen Versuche, ihn an der Abfahrt zu hindern, schlugen allesamt fehl. Er sass schon am Steuer und liess den Motor laut aufheulen. Hans, wohl noch betrunkener, schlief schon auf dem Beifahrersitz ein. Inzwischen bewegte sich auf der nahegelegenen Strasse die Fronleichnam-Prozession. Der Pfarrer betend, begleitet mit dem Träger eines grossen schweren Kreuzes. Davor drei Ministranten, Weihrauch schwenkend, gefolgt von 300 Gläubigen. Unaufhörlich hupend, fuhr Willy direkt auf die Prozession los. Immer wieder den Motor aufheulend, zwängte er sich durch. Der Pfarrer bekreuzigte sich unaufhörlich, sichtlich geschockt, was alle Mitglieder ihm sogleich nachahmten. Entsetzte Laute ertönten, sowie ein Fluchen des Pfarrers. Im Morgengrauen hatte das ganze, einen surrealistischen Charakter der besonderen Art. Wir sahen das Ende des Umzugs nicht, hörten aber noch lange das endlose Hupen des Wagens. Ja, Willys Leitspruch. Feste sind da, um sie zu feiern….